Das Leitthema der Salzburger Festspiele in diesem Jahr lautete „Die Nachtseite der Vernunft“. Uta Grünberger, die Chefredakteurin des Festival-Magazins SALON, die ich in ihrer fast magischen Kreativstätte Anif mit Blick auf den Untersberg besuchen durfte, initiierte ein Gespräch zwischen dem Wiener Genetiker Professor Josef Penninger über dieses Thema und die Verbindung zur Wissenschaft und Digitalität. Hier der Download des Interviews im SALON in Deutsch und Englisch.
Selbst sah ich in Salzburg die Cellini-Inszenierung mit einem Bühnenbild von Philipp Stölzl, der zuvor Musikvideos wie ich erfahren habe u.a. für Madonna, produzierte. Die Opernbühne des Festspielhauses glich in ihrer Intensität auch einem MTV-Set, mit Videowände, bis aufs Detail durchkomponierte Dreidimensionalität, grelle Farben und Kostüme, Effekte und Licht. Sehr modern.
Hier das Interview....
salon: Herr Reichart, Ihre Welt ist vor allem die Welt der Kommunikation und deren Zukunft. Sehen Sie da „Nachtseiten“?
Reichart: Die Frage ist, was der Begriff Nachtseite beschreibt, also ein downside im Neu-Englischen. Wenn man Vernunft als menschliche Fähigkeit versteht, rationale Überlegungen anzustellen und nach diesen zu handeln, dann hat uns die Vernunft sehr weit geführt. Der amerikanische Anthroposoph Steven Pinker etwa hat Gewalt in vergangenen Jahrhunderten mit der von heute verglichen. Ergebnis: die Gewalt hat abgenommen. Die Welt war früher irrationaler Ich glaube je mehr Vernunft, je mehr Wissen, je mehr Kommunikation - desto mehr Konfrontation wird abgebaut.
salon: Vernunft allein treibt uns doch nicht an.
Reichart: Genau. Die Ratio alleine beschreibt eben nur einen Teil dessen, was menschliches Handeln und menschliches Denken ist. Das zeigt die neuere Forschung. Für Medienschaffende ist es besonders wichtig, dass Denken immer auch gleich Fühlen ist. Zum Beispiel hat der Neurowissenschaftler António Rosa Damásio aufgezeigt: jede Entscheidung und Erfahrung ist emotional hinterlegt. Wir können das Emotionale nicht vom Rationalen trennen.
salon: Professor Penninger, was sagt der Forscher dazu?
Penninger: Ich glaube auch, dass der wissenschaftliche Fortschritt die Welt sehr weit vorangebracht hat, doch ich verstehe Vernunft eher im aufklärerischen Sinne. Der Mensch darf und kann Dinge hinterfragen, um zu vernünftigen und rationalen Entscheidungen zu gelangen. Zudem sehe ich heute, dass Kommunikation bereits überwölbend ist, wie es der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer so schön eigenwillig nannte. Vermutlich brauchen wir einen vernünftigen Umgang mit dem Phänomen Kommunikation. Wir müssen Information begreifen und verstehen.
salon: Was wissen wir denn schon?
Penninger: Wir haben ja erst die Oberfläche der Welt entdeckt. Das Innere der Wahrheit liegt noch sehr verborgen. Emotion spielt bei meiner Art wissenschaftlich zu arbeiten, durchaus eine Rolle. Das mag wie ein Gegensatz klingen. Aber der Amerikaner Malcolm Gladwell hat es mit dem Begriff Blink in seinem Buch treffend beschrieben. Blink steht für das schnelle, intuitive Entscheiden, das im Gegensatz steht zu einem überlegten Abwägen. Ich entscheide meine wissenschaftlichen Projekte auch mehr aus dem Bauch heraus, als aus der Vernunft. Wenn mein Bauch entschieden hat, dann lege ich es rational ab und beginne zu hinterfragen. Wenn ich die Nachtseite der Vernunft erkenne, dann denke ich als Wissenschaftler an Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow. Jedes Ding hat zwei Seiten: eine Gute und ein Schlechte.
salon: Was wir nicht verstehen, ordnen wir doch recht schnell dem Schlechten zu. Zum Beispiel die Stammzellenforschung…
Penninger: Ich hatte kürzlich eine Podiumsdiskussion über die Nachtseite der Ergebnisse unserer Vernunft, also die Resultate der Genforschung. Genveränderte Organismen und genveränderte Lebensmittel lösen große Verunsicherung aus. Wir kennen heute 2000 Gene, die man verschiedenen Erkrankungen zuordnen kann. Da stellt sich - auch aus der Perspektive unserer Vernunft und der wissenschaftlichen Methode - die Frage: was heißt das jetzt für einen Menschen? Wird man mich deswegen nicht anstellen, weil ich mit 40 eventuell einen Herzinfarkt bekommen könnte. Wir machen Dinge, die wir vor zehn Jahren nicht mal angedacht haben - wie Klonen und Stammzellen bearbeiten. Diese Ergebnis der Vernunft lassen viele Menschen erschrecken.
Reichart: Erkenntnisse und der technische Fortschritt haben Licht- und Schattenseiten: Die Physik hat uns im 20. Jahrhundert das Automobil und den Computer gebracht, aber auch die Atombombe. Im 21. Jahrhundert kann die Biologie dieser zentrale Fortschrittsraum für Herausforderungen des Alterns, der Epidemien oder des Klimawandels sein. Und sie wirft bereits ihre Schatten voraus. So wurde kürzlich die erste Lebensform zum Patent angemeldet. Auch das Internet zeigt diese Ambivalenz - die enorme Wissensvernetzung einerseits, aber auch die Kommunikationsmöglichkeit für Terroristen.
SALON: Professor Penninger, hören Sie für uns doch mal in Ihren Bauch. Was ist denn da noch alles vergraben?
Penninger: Was wir nicht kennen, können wir schwer hinterfragen. Aber ich finde auf dem Gebiet der Hirnforschung sehr interessant, dass man gegenwärtig versucht, bestimmte Stereotypen, die sich in unserem Verhalten zeigen - genetisch oder molekular zu erklären. Erik Kandel hat damit begonnen und für seine Studien zu der molekularen Grundlage der Erinnerung den Nobelpreis bekommen. Eine spannende Sache, denn es stellt sich die Frage: Wie weit sind wir freie Wesen? Inwieweit haben wir als Menschen wirklich freien Willen. Wie weit gehorchen wir nur einem genetischen Architekturplan?
salon: Sind denn für den Menschen und seinen Charakter am Ende nur seine Gene verantwortlich?
Penninger: In kleinen Organismen, wie Fliegen oder Würmern, kontrollieren die Gene sehr klar das Verhalten. Bei uns Menschen wird das natürlich viel komplizierter. Die anderen, sehr komplexen Dinge, sind schwer vorauszusagen. Wahrscheinlich wird jemand durch Zufall etwas entdecken, nachdem wir nie gesucht haben.
salon: Sind wir also doch als kleine Wesen neben genetischem Einfluss von viel höherer Macht beeinflusst?
Penninger: Also ich denke unsere Gene sind mehr oder weniger ein Bauplan, aus dem man verschiedene Dinge machen kann. Dieser Bauplan spielt Ping- Pong mit der Umgebung. Wir sind kein abgeschlossenes, in sich gekehrtes, eigenes System, sondern spielen ständig mit der Umwelt. Hieraus ergeben sich die interessanten Zwischentöne: Warum erkrankt jemand mit bestimmten waehrend der andere mit aehnlichen genetischen Anlagen gesund bleibt?
Reichart: Seit dem 14. Jahrhundert hat die Philosophie immer mehr das Individuum entdeckt, das sein Schicksal bestimmt. Die heutige Wissenschaft zeigt uns, dass es doch ein genetisches Programm gibt, das uns determiniert. Dass es eine Umwelt gibt, die wir nicht beherrschen können. Wir kommen wohl mit einem gewissen Programm auf die Welt, aber dieses Programm ist offen und stellt damit einen großen Teil der menschlichen Intelligenz dar. Doch unsere emotionale Intelligenz erkennt auch die Grenzen des Erklärbaren.
salon: Man könnte das auch Demut nennen…
Reichart: Ja, vielleicht. Wir sehen eine neue Demut, und eine neue Suche nach Sinn, nach Einklang mit der Natur und Spiritualität. Die Yoga-Schulen florieren.
salon: Professor Penninger, nach Ihnen ist sogar ein Stern benannt. Wie kam es denn dazu? Fühlen Sie sich als ein vom Kosmos beeinflusstes Wesen?
Penninger: Ich hatte mal einen Vortrag gehalten und ohne etwas zu ahnen, hat man mir einen Stern gewidmet. Einen kleinen Asteroid, den ich mir nachts jetzt immer anschauen kann. Viel mehr habe ich mit dem Stern nicht zu tun. Ein Entdecker kann seinem Stern einen Namen geben und da es sich in diesem Fall um einen Österreicher handelte, der von mir und meiner wissenschaftlichen Arbeit gelesen hat, wollte er mir eine Freude machen. Ich fuehlte mich sehr geehrt.
salon: Glauben Sie denn an die Astrologie?
Penninger: Überhaupt nicht. Als Wissenschafter muss ich ja ständig mit meinem Gehirn Spiele spielen und auf neue Dinge kommen. Ich glaube nicht, dass es kosmische Dinge gibt, die meine Meinungen ändern oder unsere Experimente beeinflussen können. Dem Kribbeln in meinem Bauch messe ich Bedeutung zu, in dem Sinne, dass es mir eine intuitive Richtung zeigt. Das kann ich auch keinem beschreiben oder selber begreifen. Ich weiß nur, dass da irgendetwas ist, aber ich glaube kaum, dass dies astrologisch beeinflusst ist.
salon: Demnach wären wir keine Mitspieler in einem geheimnisvollen Spiel des Kosmos?
Penninger: Ich glaube nicht, dass es diese kosmische Macht gibt, die uns beeinflusst. Ich glaube daran, dass wir als Menschen für uns selbst verantwortlich sind, in den Schranken unseres genetischen Bauplans. Es gibt Leute, die gut singen können oder eben nicht. Und es gibt es eben auch Leute, die dieses Kribbeln bekommen, wenn sie Wissenschaft betreiben. Ich glaube, das hat nichts mit einem höheren Wesen zu tun, sondern eher mit der unglaublichen Evolution, die wir durchgemacht haben.
salon: Evolution auch durch technische Revolutionen wie dem Internet?
Reichart: Das Internet bedeutet eine unglaubliche Vernetzung unser Welt. Mehr als eine Milliarde Menschen sind online. Mehr Wissen ist entstanden und verteilt worden als jemals zuvor. Wir erleben, wie sich daraus eine neue Form von kollektiver Intelligenz bildet. Ein Beispiel ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia oder anderes der Online-Salon ScienceBlogs, wo sich Menschen weltweit über wissenschaftliche Themen austauschen.
salon: Und ist die Kommunikation zwischen den Menschen durch das Internet dadurch qualitativ reicher geworden? Oder nur visueller?
Reichart: Das neue Bild der Welt, wie Dr. Hubert Burda sagt, wird natürlich durch das Internet geprägt. Er sieht in diesem iconic turn eine Renaissance der Bilder. Das Buch beförderte die Schriftkultur, weil die Kosten, Schrift zu verbreiten sich so verringerten. Bilder waren bis in die 60er Jahre teuer. Es war etwas Besonderes, in einer Illustrierten vier Farben zu drucken. Heute gehen digitalisierte Bilder und Videos fast umsonst um die Welt. Hunderte von Millionen Bildern und Videos wurden in wenigen Jahren ins Internet geladen. Das verändert natürlich die Kommunikation. Sie wird damit vielleicht auch menschgerechter. Unser Hirn hat unterschiedliche Areale der Wahrnehmung für Sprache, Bilder oder Musik und ein bewegtes Bild erzeugt episodischen Erinnerungen.
salon: Besteht nicht die Gefahr, dass wir uns zunehmend in der Web-Welt verlieren?
Reichart: Es kann sein, dass für manche eine virtuelle Existenz im Web attraktiver ist als ihre Tatsächliche. Das legen auch Studien über Süchtige im Netz und virtuelle Welten nahe. Aber das Internet ist mehr denn je ein Medium, über das Menschen miteinander kommunizieren und sich ihr soziales Umfeld organisieren. Deshalb gewinnen die sogenannten social networks so an Bedeutung, gerade in der jüngeren Generation. Diese bringen sogar gewisse Werte wieder zurück, die wir durch die industrielle Gesellschaft verloren haben. Das Internet vernetzt nicht nur, sondern Suchmaschinen schaffen eine hohe Transparenz und jeder kann sofort Antworten erhalten oder selbst geben. Dadurch entsteht ein natürlicher Druck, sich ordentlich zu verhalten. Google hat dieses don’t be evil zum Unternehmensgrundsatz erklärt. Internet communities ähneln Dorfgemeinschaften. Man kennt sichm, die Reputation ist wichtig . Diese neuen Gemeinschaften bilden sich um Themen statt um Orte.
Penninger: Mit einem Knopfdruck haben wir Information, die wir vorher wahrscheinlich einen Monat lang gesucht hätten. Keiner meiner Studenten hat in den letzten Jahren etwas in einer Bibliothek gelesen, sondern sie gehen direkt ins Internet. Das hat wirklich unser Verhalten und unsere Welt fundamental geändert und eine neue intellektuelle und politische Freiheit geschaffen. Menschen können sich äußern, die sich vorher nicht äußern konnten.
salon: Und wo ist die Nachtseite…?
Penninger: Im Grunde sind alle oberflächliche Experten geworden, weil so viele Bilder und Informationen gespeichert sind und es absolut unmöglich ist, alles durchzugehen. Dazu gehören auch Foren wie Wikipedia, wo jeder die Gelegenheit hat beizutragen und Texte oder wissenschaftliche Wahrheiten nach Belieben ändern kann. Deshalb muss man da sehr auf der Hut sein.
salon: Also auch die Gefahr der Manipulation?
Penninger: Wir erleben eben eine unglaubliche Revolution - des sozialen Lebens, in der Wissenschaft, auf politischer Ebene. Ich versuche meinen Studenten beizubringen, wie man Informationen liest und interpretiert. Der Tiefgang des Verstehens ist, dass man aus der Information die Essenz heraus destillieren kann. Man kann von einem Tier jedes einzelne Haar beschreiben, aber wenn ich mir alle Information zu jedem Haar durchlese, werde ich wahrscheinlich in meiner ganzen Lebenszeit nie draufkommen, wie dieses Lebewesen wirklich ausschaut. Wir müssen also lernen wie man aus Informationen ein Bild macht.
salon: Unsere gelernten Denkmodelle gelten also nicht mehr?
Reichart: Die großen Fragen des 21. Jahrhunderts werden wahrscheinlich erst mit den Strukturen des21. Jahrhunderts gelöst. Der Informationsarchitekt Richard Wurman gibt einen Hinweis darauf: Wir schauen auf die Erde, sehen aber vor allem Wasser. Wir blicken auf unsere Welt und sehen die UN-Karte mit 192 Nationen. Wir schauen auf die Welt und sehen 19 Super Cities mit über 20 Millionen Einwohnern, die ein völlig neues globales Netzwerk darstellen. Wir erleben, wie sich zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts neue Strukturen herausbilden, in denen die Globalisierung und Digitalisierung ihre Gestalt finden. Bei allen Problemen: unsere Chancen liegen in diesen neuen Netzwerken.
salon: … und damit bei einer vernetzten Vernunft?
Reichart: Ja, aber ich glaube auch, dass immer Unerklärliches bleiben wird und auch bleiben muss.
Penninger: Und ich weiß immer mehr, dass wir eigentlich kaum etwas wissen und jede Erkenntnis Fragen nach anderen Erkenntnissen aufwirft. Das ist diese Angst, diese Dunkelheit. Vielleicht bin ich auch deshalb Wissenschaftler geworden. Einer, der irgendwie in diese Dunkelheit hineinbellt und hofft, dass ein Echo zurückkommt. Und mit dem Echo versuchen wir dann die Welt zu erklären.
Dr. Marcel Reichart ist Geschäftsführer Forschung und Entwicklung, Marketing und Kommunikation der Hubert Burda Media und Mitgründer der europäischen Zukunftskonferenz Digital Life Design (DLD). Er war Leiter des Verlegerstabes von Dr. Burda und baute zuvor den europäischen Medien-Inkubator Venturepark auf. Nach seinem Studium der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften in Koblenz (WHU), Lyon, Washington und Rom, arbeitete er für Dr. Otto Graf Lambsdorff und Roland Oetker. Dr. Reichart ist Young Global Leader des World Economic Forum.
Prof.Dr. Josef Penninger zählt zu den weltweit führenden Genetikern. Der „Wissenschaftler des Jahres 2003“ leitet seither als Direktor das IMBA - Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Der geborene Oberösterreicher hatte in Innsbruck Medizin studiert, bevor er ans Ontario Cancer Institute nach Toronto ging und in Kanada zum „Young leader in medicine in Canada“ und „ten most interesting people in America“ ausgerufen wurde. Penninger ist derzeit Professor fuer Immunology und Medizinische Biophysik an der Universitaet Toronto, Professor fuer Genetik an der Universitaet Wien, und Honorarprofessor der Chinese Academy of Medical Sciences, Peking. Penninger hat mehr als 290 wissenschaftliche Arbeit im Bereich Genetik und Medizin publiziert und entdeckte u.a. Gene, die Osteoporose, Schmerz, or SARS Infektionen kontrollieren. Fuer seine Arbeiten erhielt Penniger 2007 der Descartes Preis und den Ernst Jung Preis fuer Medizin. Penninger war ausserdem 2000 und 2001 einer der zehn meist zitierten Wissenschafter der Welt und ist seit 2005 Young Global Leader des World Economic Forums.
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